Autismus: Neue Bestätigungsversuche zur „extreme male brain“-Hypothese



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Cambridge – Der britische Psychiater Simon Baron-Cohen vermutet, dass Autismus-Spektrum-Störungen Folge einer vermehrten Bildung von männlichen Geschlechts­hormonen in der Fetalperiode ist. Die Untersuchung von fast 20.000 archivierten Fruchtwasserproben in Molecular Psychiatry (2014; doi: 10.1038/mp.2014.48) scheint diese  „extreme male brain“-Theorie jetzt erneut zu bestätigen.
Der Leiter des Autism Research Centre an der Universität Cambridge ist auch in Deutschland für seine ungewöhnlichen Thesen zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden des Gehirns bekannt. Das weibliche Gehirn zeichnet sich nach Ansicht von Baron-Cohen durch die Fähigkeit zur Empathie aus, die Gefühle und Gedanken in den Mittelpunkt stellt.
Die Stärke des männlichen Gehirns liege dagegen in der Fähigkeit zum systematischen Denken. Eine Extremform dieser Männlichkeit ist für Baron-Cohen der Autismus, vor allem das mit einem normalen oder hohen Intelligenzquotienten einhergehende Asperger-Syndrom.
Der Entwicklungspsychologe vermutet, dass die Weichen für Autismus-Spektrum-Störungen bereits in der Fetalperiode gestellt werden. Vor einigen Jahren konnte er zeigen, dass Kinder, die vor der Geburt erhöhte Testosteronwerte im Fruchtwasser hatten (in einer anlässlich einer Pränataluntersuchung durchgeführten Amniozentese), im Alter von zehn Jahren häufiger autistische Persönlichkeitsmerkmale aufwiesen, was Baron-Cohen an einem niedrigen „Empathie-Quotienten“ und einem hohen „Systemati­sierungs-Quotienten“ festmachte.
Jetzt hat der Forscher zusammen mit Bent Nørgaard-Pedersen vom Statens Serum Institute in Kopenhagen die Konzentration von vier Steroidhormonen in 19.500 Fruchtwasserproben untersucht. Darunter waren 128 Kinder, bei denen später eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert wurde.

Alle vier Hormone (Progesteron, 17alpha-Hydroxyprogesteron, Androstenedion und Testosteron) waren bei den Kindern mit späterer Autismusdiagnose im Fruchtwasser erhöht. Alle vier Hormone sind Bestandteil eines Stoffwechselwegs, der zur Bildung von Testosteron führt, was die Hypothese von Baron-Cohen zu bestätigen scheint.
Die Studie zeigt allerdings auch eine erhöhte Konzentration von Cortisol, einem Steroid, das nicht Bestandteil des Testosteronstoffwechsels ist. Hinzu kommt, dass eine Asso­ziation allein eine Kausalität nicht belegt. Die erhöhten Testosteronwerte könnten beispielsweise auch Folge der Erkrankung sein. Es wäre deshalb verfrüht, von einem Marker für die Erkrankung zu sprechen.
Auch für ein Screening, etwa im Rahmen der Pränataldiagnostik, reichen die Hinweise nicht aus. Eine Behandlung mit Testosteronblockern scheidet wegen der damit verbundenen Risiken aus. Der nächste Schritt könnte im Versuch bestehen, die Erkrankung im tierexperimentellen Modell durch eine Manipulation der Testosteronproduktion auszulösen. Bis dahin dürfte die „extreme male brain“-Hypothese autistischer Störungen als unbewiesen gelten.

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