Neuroleptika bändigen gewalttätige Psychotiker


Die Welt


Menschen mit Psychosen oder bipolaren Störungen werden viermal so häufig gewalttätig wie andere. Nun zeigt eine neue Studie, dass sich dies mit Medikamenten deutlich eindämmen lässt. Von Martina Preiner

In Deutschland dürfte es eine solche Studie nicht geben. Die Krankenakten Zehntausender Patienten mit ihren Strafanzeigen vergleichen? Undenkbar – wegen des Datenschutzes.
In Schweden ist der weniger streng, dort kamen Forscher an die Krankenakten von 82.647 Menschen, die an einer Psychose litten und mit Medikamenten behandelt wurden. Diese Daten glichen sie mit dem landesweiten Strafregister ab. Die Erkenntnisse, die sie dabei gewannen, könnten auch in Deutschland eine schwierige Debatte neu beleben.
Die Forscher untersuchten, ob die Patienten straffällig geworden waren, während sie Psychopharmaka einnahmen. Es ging nicht um Diebstahl oder Betrug, sondern um Gewaltverbrechen. Halfen die Medikamente, Übergriffe zu verhindern?
Patienten, die an einer Schizophrenie oder bipolaren Störung leiden, nehmen ihre Medikamente nicht immer ein. Sollte man sie gegen ihren Willen mit Psychopharmaka behandeln? Das ist die Frage, die sich aus den Ergebnissen der Studie, die nun in der Fachzeitschrift "The Lancet" erschienen ist, ergibt. Die Forscher fanden Hinweise darauf, dass einige Medikamente das Risiko, dass psychisch Kranke zu Gewalttätern werden, senken.
Seena Fazel ist Forensischer Psychiater der Universität Oxford, er hat die Auswertung der Daten aus Schweden geleitet, unterstützt von Kollegen des Karolinska Institutet aus Stockholm. "Der mögliche Effekt dieser Medikamente auf Gewalt und Verbrechen sollte beachtet werden", schreiben die Forscher in "Lancet".
Bei Durchsicht der Daten aus Kranken- und Strafakten werteten die Forscher aus, an welcher Krankheit die Patienten litten und wie gewalttätig sie wurden. Nahmen sie Antidepressiva, Neuroleptika oder Medikamente, die Angst lösen?
Von den knapp vier Millionen zwischen 1961 und 1990 geborenen Schwedinnen und Schweden wurden diejenigen in die Statistik aufgenommen, die zwischen 2006 und 2009 eines oder mehrere der besagtenPsychopharmaka verschrieben bekamen. Das waren sowohl bei Männern als auch bei Frauen jeweils zwei Prozent. Etwas mehr als die Hälfte der Patienten waren Frauen, nur 604 von ihnen wurden verurteilt. Von den Männern waren es 2657.

Neuroleptika senkt die Zahl der Gewaltvorfälle


Die Wissenschaftler gingen die Gewaltvorfälle bei jedem der straffällig gewordenen Patienten durch und verglichen die Dosis und Art der eingenommenen Medikamente zum jeweiligen Zeitpunkt. Dabei stellten sie fest, dass die Kranken vor allem in Phasen, in denen sie Neuroleptika einnahmen, viel seltener gewalttätig wurden. Die Zahl der Übergriffe fiel unter dem Einfluss dieser Medikamente um 45 Prozent.
Neuroleptika, auch bekannt als Antipsychotika, schränken die Übertragung des Botenstoffs Dopamin im Gehirn ein. Die Medikamente sollen beruhigend wirken und Wahnvorstellungen bekämpfen.

Die anderen untersuchten Psychopharmaka zeigten eine geringere Korrelation mit Gewalttaten. Bei Patienten, die unter einer bipolaren Störung litten, sank die Gewalttätigkeit häufig, wenn sie Stimmungsstabilisierer einnahmen.
"Uns ist klar, dass unsere Studie keinen kausalen Zusammenhang beweist, lediglich eine Korrelation", sagt Seena Fazel. Aber die Daten zeigten: "Menschen, die besagte Medikamente einnehmen üben mit geringerer Wahrscheinlichkeit ein Gewaltverbrechen aus."
Ein Argument für Zwangsbehandlungen? Bei dem Wort denkt man an Menschen, die an Betten festgeschnallt werden. Oder an den Patienten den Jack Nicholson in dem Film "Einer flog übers Kuckucksnest" spielt. Er wird einer Lobotomie unterzogen. Die Gehirnoperation soll seine Aggressionen bändigen.

Einsichtige und uneinsichtige Patienten


Auch die Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung gegen den Willen eines Patienten gilt als Zwangsbehandlung. Aber was, wenn ein Mensch seiner Erkrankung erliegt, obwohl es eine Möglichkeit der Lebensverlängerung gegeben hätte? Kann (oder soll) man einen Magersüchtigen verhungern lassen?
In Deutschland findet sich die Gesetzesgrundlage für Zwangsbehandlungen im Bürgerlichen Gesetzbuch, Paragraf 1906. Zwei Voraussetzungen müssen erfüllt sein. Im ersten Schritt ist zu klären, ob die Gesundheit des Patienten akut gefährdet ist oder ob eine Nicht-Behandlung sein Leben stark verkürzen würde.

Im zweiten Schritt werden einsichtige Patienten von nicht einsichtigen unterschieden. Wer sich über seine Erkrankung im Klaren ist, kann sich gegen eine Behandlung entscheiden.
Psychotiker, also Menschen, die an bipolaren Störungen oder Schizophrenie leiden, gefährden in bestimmten Fällen nicht nur sich, sondern auch andere. Dann kommt das Polizeirecht ins Spiel, das die öffentliche Sicherheit gewährleisten soll. Das Polizeirecht ist Ländersache in Deutschland, die Regelungen können also in Hamburg ganz anders ausfallen, als in Bayern.
Per Polizeirecht kann eine Unterbringung angeordnet werden. Da die räumliche Begrenzung nicht festgelegt ist, kann das auch die Fixierung eines Menschen bedeuten. Patienten, die sich ihrer Psychose bewusst sind, dürfen allerdings keine Medikamente unter Zwang verabreicht werden. Auch dann nicht, wenn sie andere gefährden.

Neuroleptika könnten Gehirn schrumpfen lassen


Was ist entwürdigender – über lange Zeiträume gefesselt zu werden oder eine Zwangsbehandlung mit Neuroleptika? Man könnte auch nach den Nebenwirkungen der Medikamente fragen. Es gibt Studien, denen zufolge Neuroleptika langfristig das Gehirn schrumpfen lassen.
Auf die Nebenwirkungen weist auch Wolfgang Maier von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) hin. Er erkenne den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wert der Studie aus Schweden an, sagt er.
Allerdings seien Zeiträume, in denen Patienten ihre Medikamente absetzen, auch die Zeiträume, in denen sie keinen Kontakt zu ihrem Arzt haben. Der menschliche Kontakt ist ein wichtiger Faktor in der Behandlung von Psychotikern. Doch er spielt in der Auswertung der Daten aus Schweden keine Rolle.Er erkenne an, dass der Kontakt zu Pflegepersonal sozial und psychologisch wertvoll sei, sagt Seena Fazel, der Studienleiter. Aber die Studie habe auch gezeigt, dass Patienten, die andere Medikamente nahmen – und also Kontakt zu einem Arzt hatten – im Schnitt mehr gewalttätige Übergriffe verübten, als Patienten, die mit Neuroleptika behandelt wurden.
Ob seine Studie ein Argument für Zwangsbehandlungen mit Medikamenten liefern könnte – darüber möchte Fazel lieber nicht diskutieren.

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